Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 17.04.2018 (Az. C-195/17 u.a.) entschieden, dass Fluggesellschaften im Falle eines “wilden Streiks“ des Flugpersonals zur Leistung von Ausgleichszahlungen verpflichtet sind, wenn sie Flüge nicht wie geplant durchführen können.

Die Rechte von Flugpassagieren bei Nichtbeförderung, Flugausfall und Flugverspätung sind unter anderem in der EU-Verordnung Nr. 261/2004/EG, der sogenannten Fluggastrechteverordnung, geregelt. Nach dieser Verordnung und der hierzu entwickelten Rechtsprechung des EuGH und des Bundesgerichtshofs (BGH) haben die Fluggäste bei Nichtbeförderung (insbesondere wegen Überbuchung), bei Annullierung des Fluges und auch bei großer Flugverspätung Anspruch auf Betreuungsleistungen, Unterstützungsleistungen und insbesondere einen finanziellen Ausgleichsanspruch gegen die ausführende Fluggesellschaft. Je nach Flugentfernung beläuft sich die pauschale Entschädigungsleistung auf 250,00 EUR, 400,00 EUR oder 600,00 EUR pro Person. Die europäischen Flugrechte gelten für alle Flüge, die innerhalb der EU starten oder von europäischen Fluggesellschaften durchgeführt werden.

Ein Anspruch auf Ausgleichzahlung besteht im Falle der Nichtbeförderung, des Flugausfalls oder der sogenannten großen Flugverspätung von mindestens drei Stunden. Mit einer Nichtbeförderung ist der Fall gemeint, dass der Fluggast rechtzeitig zum Check-In erscheint, alle notwendigen Papiere dabeihat und trotzdem von der Fluggesellschaft nicht mitgenommen wird. Ein Flugausfall ist gegeben, wenn der Flug durch die Fluggesellschaft annulliert wird. Eine große Verspätung liegt nach der Rechtsprechung des EuGH und des BGH vor, wenn der Fluggast sein Endziel drei Stunden oder später nach der ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreicht. Grundsätzlich gilt, dass ein Ausgleichsanspruch ab einer Ankunftsverspätung von über drei Stunden und bei kürzeren Strecken bereits ab einer Abflugverspätung von zwei Stunden besteht.

Oftmals verweigern Fluggesellschaften zunächst eine Ausgleichszahlung und berufen sich darauf, bei dem betroffenen Flug habe ein “außergewöhnlicher Umstand“ vorgelegen. Die Fluggastrechteverordnung enthält eine Regelung, nach der die Fluggesellschaft unter bestimmten Umständen entlastet ist und nicht zahlen muss. Diese außergewöhnlichen Umstände sind jedoch eng begrenzt und als Ausnahmeregel anzusehen, die Airline ist insoweit beweisverpflichtet. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb einer Fluggesellschaft beeinträchtigenden Streiks eintreten.

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 17.04.2018 entschieden, dass ein “wilder Streik“ des Flugpersonals die Fluggesellschaft nicht von der Pflicht zur Leistung von Ausgleichszahlungen bei Flugverspätung oder -annullierung befreit. In dem Vorabentscheidungsverfahren des EuGH ging es um die massenhaften Krankmeldungen des Flugpersonals der Fluggesellschaft TUIfly im Herbst 2016.

Am 30.09.2016 kündigte die Fluggesellschaft TUIfly ihrer Belegschaft überraschend Pläne zur Umstrukturierung des Unternehmens an. Dies führte dazu, dass sich ein sehr großer Teil des Flugpersonals nach einem spontan von den Arbeitnehmern selbst verbreiteten Aufruf während etwa einer Woche krankmeldete. Am Abend 07.10.2016 teilte das Management von TUIfly der Belegschaft mit, dass eine Einigung mit dem Betriebsrat erzielt worden sei. Wegen diese “wilden Streiks“ wurden zahlreiche Flüge von TUIfly annulliert oder hatten eine Ankunftsverspätung von drei Stunden oder mehr. Die Fluggesellschaft vertrat die Auffassung, dass es sich um “außergewöhnliche Umstände“ im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über Fluggastrechte gehandelt habe und weigerte sich, den betroffenen Fluggästen die darin vorgesehenen Ausgleichzahlungen zu leisten. Die Amtsgerichte Hannover und Düsseldorf fragten den EuGH, ob die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals in Gestalt eines hier in Rede stehenden “wilden Streiks“ unter den Begriff “außergewöhnliche Umstände“ fällt, so dass die Fluggesellschaft von ihrer Ausgleichsverpflichtung befreit sein könnte. Die Richter in Luxemburg haben diese Frage in ihrer Entscheidung vom 17.04.18 nun verneint.

Nach Auffassung des EuGH fällt die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals in Gestalt eines hier in Rede stehenden “wilden Streiks“ nicht unter den Begriff “außergewöhnliche Umstände“, wenn sie auf die überraschende Ankündigung von Umstrukturierungsplänen durch ein ausführendes Luftfahrtunternehmen zurückgeht und einem Aufruf folgt, der nicht von den Arbeitnehmervertretern des Unternehmens verbreitet wird, sondern spontan von den Arbeitnehmers selbst, die sich krank meldeten. Der EuGH hat betont, dass die Verordnung zwei kumulative Bedingungen für die Einstufung eines Vorkommnisses als “außergewöhnlicher Umstand“ vorsehe, nämlich dass dieses Vorkommnis erstens seiner Natur und Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft ist und zweitens von dieser nicht tatsächlich beherrschbar ist. Dass es in einem Erwägungsgrund der Verordnung heiße, dass solche Umstände insbesondere bei Streiks eintreten könnten, bedeute noch nicht, dass ein Streik unbedingt und automatisch einen Grund für die Befreiung von der Ausgleichpflicht darstelle. Vielmehr sei von Fall zu Fall zu beurteilen, ob die beiden oben genannten Bedingungen erfüllt seien.

Im vorliegenden Fall seien diese beiden Bedingungen nicht erfüllt. Zum einen gehörten Umstrukturierungen und betriebliche Umorganisation zu den normalen betriebswirtschaftlichen Maßnahmen von Unternehmen. Zum anderen könne nicht angenommen werden, dass der hier in Rede stehende “wilde Streik“ von TUIfly nicht tatsächlich beherrschbar war. Abgesehen davon, dass er auf eine Entscheidung von TUIfly zurückzuführen sei, endete er trotz der hohen Abwesenheitsquote nach einer Einigung zwischen TUIfly und dem Betriebsrat vom 07.10.2016.

Der EuGH hat zudem auf folgendes hingewiesen: Der Umstand, dass diese Vorgehensweise der Belegschaft, weil sie nicht offiziell von einer Gewerkschaft indiziert wurde, als “wilder Streik“ im Sinne des deutschen Arbeits- und Tarifrechts einzustufen sein dürfte, spiele für die Auslegung des Begriffs “außergewöhnliche Umstände“ keine Rolle. Ansonsten hätte dies zur Folge, dass der Anspruch von Fluggästen auf Ausgleichszahlung von den arbeits- und tarifrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedsstaats abhinge. Hierdurch würden die Ziele der Verordnung beeinträchtigt, ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sowie harmonisierte Bedingungen für die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in der Union sicherzustellen. Die einzelnen Entschädigungsfälle müssen nun jeweils noch von den deutschen Gerichten beurteilt werden, die allerdings an die Vorgaben des EuGH gebunden sind.

Ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung besteht, ist weiterhin stets eine Frage des Einzelfalls, die wir gerne für Sie prüfen und ggf. gerichtlich durchsetzen.